Tarnen und täuschen: Natur, Wissenschaft und Politik

Wenn jetzt die Zeit der Pilzsammler losgeht, werden die Warnungen vor giftigen Doppelgängern wieder laut: Champignon oder Grüner Blätterknollenpilz, Steinpilz oder Gallenröhrling, … Den winzigen Unterschied zwischen der schmackhafte Leckerei zur Saison und dem gefährlichen Gegenstück muß man kennen, sonst kann der Herbstgenuß fatal enden. Sinnvoll erweist sich die Täuschung für den jeweils ungiftigen Zwilling, der von vorsichtigen Faßfeinden und unkundigen Menschen gemieden wird.

Die Feindesabwehr ist auch das Ziel der harmlosen Schwebfliegen, die gezeichnet sind wie wehrhafte Wespen; die Venusfliegenfalle dagegen lockt mit Geruch und Optik von reifen Früchten, um so Insekten zur Einkehr zu verführen. Selbst die Wissenschaft ist auf den Nachahmungszug aufgesprungen. Die Bionik versucht nichts anderes als die technische Umsetzung natürlicher Prinzipien: Die Vorlage für den Klettverschluß lieferte die Klette; der Lotusblüte eifern die Entwickler glatter Oberflächen für Fliesen, Fassadenfarben und Brillengläser nach, die kaum noch Schmutz ansetzen.

Sich ein gutes Vorbild zu nehmen und daran zu lernen, das ist nur allzu menschlich. Ein Stück weit ist Lernen nichts anderes als Nachahmen und Lehren die Anleitung zur Nachahmung. Aber in der Nachahmung lauern auch Fallstricke, für jeden einzelnen und für uns als Gemeinschaft. Eins von vielen Beispielen:  Der Supermarkt ist eine miserable Nachahmung des guten alten Tante-Emma-Ladens. Herzlichkeit? Vertrauen? Zuverlässigkeit? Gestrichen zugunsten der Bilanz. Daß dabei ganze Landstriche von der Versorgung abgeschnitten werden, nämlich überall da, wo kein Konzern Profite maximieren kann, das kümmert die Politik nicht.

So sind wir als Opfer unglaublich vieler Trittbrettfahrer, die sich Cistus auf die Packung schreiben, offensichtlich kein Einzelfall. Wer weiß, was in den Packungen steckt? Forschung ist bei den Nachahmern Fehlanzeige. Angebliche Eigenschaften irgendwelcher Pflanzen werden erfunden, aber nicht belegt. Das stört die Politik nicht, denn mit der Gesundheit hält sie es wie mit den Supermärkten: Das wirtschaftliche Interesse steht vor dem Wohl der Menschen. 100 Trittbrettfahrer bringen mehr für das Brutto(anti)sozialprodukt als ein Original; ein Einkaufscenter im Ballungszentrum schafft mehr Arbeitsplätze und Wachstum als der vertraute Tante-Emma-Laden. Den Wirtschaftsstandort Deutschland stärkt man eben nicht, indem man den Menschen- und Naturstandort stärkt.

Warum das alles möglich ist? Weil auch die Parteien das Tarnen und Täuschen beherrschen wie die Venusfliegenfalle: Die einen locken mit christlichem Anstrich, die anderen mit einem sozialen, einem grünen, einem liberalen oder „alternativem“. Und wir gehen in die Wahlkabine wie die Fliegen in die Falle.